Pinocchio

Postmoderner Holzknirps

Gepetto hat einen Roboter entwickelt: Pinocchio. Was liegt näher, als den schweigsamen Blechkumpan dem Militär als Killermaschine anzupreisen? Derweil wird die Gattin des skrupellose Erfinders beim Versuch, Pinocchios überdimensionierte Nase als Dildo zu benutzen, geröstet. Denn seit Jiminy Grille, ein Loser, wie er im Buche steht, sich im Hirn des Maschinenjungen eingenistet und dort den einen oder anderen Anschluss gekappt hat, tickt das augenfällig über keine Moral verfügende Kerlchen nicht mehr ganz richtig. Sich fatalistisch seinem Schicksal ergebend, schlittert Pinocchio von einem verrücktem Abenteuer ins nächste – vom gnadenlosen Drill am Fliessband in Strombolis Spielzeugfabrik bis zum Horrortrip auf der faschistoiden Zauberinsel.

 

Kaum je wurde ein Märchen konsequenter dekonstruiert als in «Pinocchio» (Avant, zirka 52 Franken) vom französischen Künstler Winshluss (alias Vincent Paronnaud; zusammen mit Marjane Satrapi zeigte er sich für die Animation für «Persepolis» verantwortlich). Sex, Drogen, Gewalt, Blasphemie: Kein Element des Stoffs, der im rührseligen Disney-Gewand um die Welt ging, bleibt in dieser unheiligen Radikalfassung unangetastet - Schneewittchen-Massenvergewaltigung, Zerstückelungen und Verbrennungen bei lebendigem Leib inklusive. All diejenigen, denen dieser brutal entmystifizierende Ansatz zu krass ist oder die die Notwendigkeit desselben zumindest kritisch hinterfragen, dürften doch nicht umhin kommen, dem meistens ohne Worte auskommenden, 190-seitigen Werk in formalen Belangen Genialität zu bescheinigen: Die verschachtelte Erzähltechnik, die je nach Plotstrang und Technik in punkto Stil und verwendetem Zeichenstil enorm variierende Gestaltung, die ganzseitigen Einschübe – all das hat man, gepaart mit dem anarchistischen Witz, dergestalt noch nie im Medium gesehen. Wegweisend. (scd)

 

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Vinci

Lichtgestalt und Dämon zugleich

Mailand, Winter 1494: Am Ufer des Martesana-Kanals wird die Leiche von Christoforo di Rodrigo gefunden. Die Gesichtshaut ist dem Notar mit geradezu chirurgischer Präzision entfernt worden. Augenzeugen wollen ein monströses Wesen beobachtet haben. Die Behörden stehen vor einem Rätsel, der Druck von der Obrigkeit wächst. Da geschieht ein zweiter Mord nach demselben Muster – in Venedig, wo sich zur Tatzeit auch das Universalgenie Leonardo da Vinci aufhält. Der exzentrische Meister umgibt sich mit einem ihm treu ergebenen Jüngling, den er «Sohn» nennt, und einer mysteriösen Frau, zu der er im Geheimen ein vertrautes Verhältnis unterhält. Die Indizien scheinen sich in Richtung der lebenden Künstler- und Erfinderlegende zu verdichten, als ein weitererer, anscheinend mit einem Gerät modernster Technik ausgeführter Mord geschieht: Besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass da Vinci etwas mit den bestialischen Taten zu tun haben könnte? Doch aus welchem Antrieb und mit welchem Ziel?

 

«Vinci» (Ehapa, zirka 50 Franken) von Didier Convard (unter anderem «Britta und Colin», «Die Erben der Sonne», «Tanatos») und Gilles Chailet («L. Frank», «Vasco») hat mit dem Klassiker «Die sieben Leben des Falken» von Cothias/Juillard (1983–91)  den konventionellen, detailliert ausgeführten, realistischen Ligne-Claire-Stil gemeinsam, der zunächst eher abschreckend wirken könnte. Bei der Lektüre kommt jedoch die Komplexität und Hochwertigkeit des Plots zum Vorschein, dessen Authentizität durch das der Inhaltsebene «nur» dienende Artwork aufs beste gestützt wird. «Vinci», im Grund in einer grossen Rückblende von einer Drittperson erzählt, gibt unter faktofiktivem Vorzeichen den Blick frei auf Leben und Werk einer der nach wie vor schillerndsten und rätselbehaftetsten Persönlichkeiten des Abendlandes. Dramaturgisch genial komponiert, fügen sich am Schluss des zunächst in zwei Alben erschienenen, über 100-seitigen Werks die einzelnen Mosaikteilchen zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Um diesen Effekt voll zur Entfaltung kommen lassen zu können, sei ausdrücklich davor gewarnt, voreilig auf die letzten Seiten vorzuspringen. (scd)

 

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Marvels

Im Auge des Sturms

New York während des Zweiten Weltkrieges: Superhelden, Androiden, Mutanten und Giganten zieht es in die Stadt, die niemals schläft. Mittendrin, den Finger immer am Abzug bereit, steht Phil Sheldon, ein aufstrebender Fotograf. Der Protagonist Sheldon ist in der vierteiligen Miniserie im Gegensatz zu seinen Kameraobjekten kein Übermensch, sondern ein normalsterblicher Journalist, der Tag und Nacht Superhelden aus dem Marvel-Universum fotografiert.

 

Acht Jahre nach «Watchmen» (Alan Moore) wird im zuerst 1994 erschienenen und jetzt auf Deutsch neu aufgelegten Werk «Marvels» (Panini Comics, zirka 34 Franken) ein weiteres Mal das ambivalente Verhältnis der Spezies Mensch zu den Superhelden dargestellt. In der glaubhaften Story von Kurt Busiek («Astro City», «Thunderbolts», «The Avengers») wird fingiert, wie eine Welt mit fliegenden, sich verbiegenden oder brennenden Zeitgenossen aussehen könnte. (Dass die Geschichte auch einen anderen Lauf nehmen könnte, zeigt die bei Marvel erschienene Dystopie «Ruins» von Warren Ellis/Terese Nilson, in welchem ebenfalls Phil Sheldon die Hauptfigur darstellt.)

 

Neben einer einfachen, aber packenden Story fesselt der fotorealistische Stil von Alex Ross («Kingdom Come», «Batman: Kampf dem Verbrechen», «Superman: Friede auf Erden») von der ersten Seite an. Auch wenn die oft mehrstufig, asymmetrisch angeordneten Panels einen stark variierenden Leserhythmus vorgeben, der dem Leser einiges abverlangt, laden Ross' Zeichnungen zum Verweilen und Geniessen ein. Der 1994 noch junge Ross gewann mit «Marvels» den Eisner Award in der Rubrik «Best Painter/Multimedia Artist» und zusammen mit Busiek die «Best Finite Series/Limited Series». Der zweite Band «Im Visier der Kamera» von Busiek/Anacleto (erscheint voraussichtlich im April 2010) wird es daher schwierig haben, in dieser Liga mitzuspielen. (sam)

 

«Marvels»-Cover-Galerie von Alex Ross »

Batman R.I.P.

Totentanz in Arkham Asylum

Vor dem Hindergrund der späten Achtzigerjahre, in welchen auch Grant Morrison mit «Arkham Asylum» zur Renaissance des dunklen Ritters beitrug, waren die Erwartungen dementsprechend hoch, als DC 2008 «Batman R.I.P.» von Morrison und Tony S. Daniel als bahnbrechend und alles verändernde Serie ankündigte. Bei Panini Comics (für zirka 34 Franken) erscheint nun der deutsche Sammelband zu «Batman R.I.P.» mit einem Prolog, sechs Hauptteilen und dem zweiteiligen Epilog «Was der Butler sah».

 

Inhaltlich ist die Geschichte keineswegs revolutionär: Ein neuer Gegner (Dr. Simon Hurt, Anführer vom Black Glove) versucht Batman auszuschalten. Um seine Überlegenheit zu beweisen, inszeniert der Bösewicht einen Showdown, der ihm schlussendlich selber zum Verhängnis wird. Im Gegensatz zum innovativen Artwork von Dave McKean in «Arkham Asylum» kommt Tony S. Daniels («Teen Titans») Illustration nicht über gutes Mittelmass hinaus. Immerhin liest sich die dynamische Panelgestaltung fliessend. Häufige Szenenwechsel halten die Geschichte spannend. Je tiefer man sich in Morrisons Werk gräbt, desto klarer wird, dass man weitere Male nach Zitaten und Querverweisen aus älteren Batman-Comics stochern muss. Beim ersten Lesen fühlt man sich mit zunehmender Handlung jedoch ein wenig verloren, da zum rätselhaften Beginn weitere Irritationen dazukommen, die offen bleiben. Dazu ist der Auftritt vieler bunter Schurken, aber auch anderer (Neben-)Figuren überflüssig und verwirrend. Interessant ist einzig ein neuer, freakiger Joker, der allen Regeln zum Trotz im Dance Macabre von Black Glove seine eigenen Schritte tanzt.

 

Für Batmank-Kenner mag «Batman R.I.P.» eine herausfordernde Fundgrube darstellen. Quereinsteiger wird jedoch vorgängig die Lektüre von «Batman and Son» (Morrison/Kubert) und «The Black Glove» (Morrison/Williams III) empfohlen (beide bis jetzt nur auf Englisch erhältlich), die sowohl thematisch einleiten als auch Basiswissen zu verschiedenen Figuren bieten.

Wer sich für «Batman R.I.P.» interessiert, kommt wohl auch um die Lektüre von «Batman 35/36» (Panini, je Heft zirka 9 Franken) nicht herum. Hier liegt der dunkle Ritter tot im Sarg und ganz Gotham City erweist ihm die letzte Ehre. Selina Kyle alias Catwoman, eröffnet mit ihrer persönlichen Geschichte als erste mehrerer Figuren aus dem Bat-Universum, wie sie zu Batman stand und wie sich sein Tod zugetragen haben soll.

 

Anders als in den x-fach wiederholten, uninspirierten Tode Batmans scheint es Neil Gaiman in seiner Miniserie mit dem Ableben des weltbesten Detektivs ernst zu meinen. Wie sich die Story in die laufende Zeitachse eingereiht, ist allerdings nicht klar ersichtlich: Ist sie ein One-Shot ausserhalb der regulären Timeline als letzter «Liebesbrief an Batman», wie es Gaiman nannte oder spielt sie nach «Batman R.I.P.»? Auch die Geburt von Bruce Wayne im letzen Panel wirft Fragen auf. Verfolgt der Leser ein Nahtoderlebnis des Multimillionärs oder ist er Zeuge einer ätherischen Zwischenwelt, in welcher sich die Seele von Bruce Wayne vor einer Reinkarnation aufhält? Der Titel der neuen Batmanserie «Kampf um die Maske» deutet zwar an, dass Bruce Wayne gestorben ist und dass es einen Nachfolger geben wird. Ob DC es tatsächlich wagen wird, Bruce Wayne in Frieden ruhen zu lassen, darf bezweifelt werden. Falls doch, wären die beiden Batman-Ausgaben der Beginn eines Paradigmenwechsels im Batman-Kosmos.

 

Zeichnerisch stellt die Miniserie eine Hommage an den erfolgreichsten Rächer aller Zeiten dar. Indem Andy Kubert die Zeichenstile unter anderem von Jerry Robinson (Golden Age), Carmine Infantino (Silver Age) Brian Bolland («The Killing Joke») oder David Mazzucchelli («Das erste Jahr») adaptiert, zollt er Tribut an einige legendäre Zeichner der menschlichen Fledermaus. (sam)

 

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Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen 2

Literarisches Teekränzchen im viktorianischen London

Alan Moores («Watchman», «V wie Vendetta», «From Hell») literarische Quintett muss im zweiten, im Original von 2000 bis 2003 erschienenen und nun neu auf Deutsch aufgelegten Abenteuer der titelgebenden «Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen» (Panini, zirka 34 Franken) das britische Empire gegen Ausserirdische verteidigen. Nicht dass es schon schlimm genug wäre, sich gegen dreifüssige Marsianer mit Mikrowellenwaffen behaupten zu müssen, auch die Liga selbst wird von einem Verräter unterwandert.

 

Der Plot, eine Adaption des Science-Fiction-Klassikers «Krieg der Welten» von H. G. Wells (1898), scheint zuerst nicht vielversprechend. Die fiktive Autorschaft hält sich jedoch nur bedingt ans Original und entwickelt die fünf viktorianischen Romanfiguren Allan Quatermain, Käpt'n Nemo, Mina Murray, Dr. Jekyll/ Mr. Hyde und Griffin, den Unsichtbaren, jedoch so, dass die Story interessant und unterhaltsam bleibt. Die «jugendlichen Leser» werden mit mehreren unerwarteten, zum Teil originellen, aber manchmal auch hart an der Grenze des guten Geschmacks liegenden Wendungen überrascht.

 

Kevin O'Neills («Marshal Law») kantiger Figurenstil und die klar strukturieren Panelraster werden auch im zweiten Band beibehalten. Zwei schöne Bildmontagen zu Beginn der ersten beiden Kapitel deuten an, was den sequenziellen Abenteuerroman auch später so fesselnd macht: Moore und O’Neill schicken den Leser sowohl zeichnerisch als auch dramaturgisch auf Entdeckungsreise und verwöhnen ihn mit vielen kleinen Überraschungen, die zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen.

 

Hervorzuheben an der Paniniausgabe sind neben der edlen Aufmachung auch die vielen Extras. Hochwertiges Papier, Faltcover, Titelbilder der englischen Originalausgaben, ein über fünfzigseitiger «Almanch für Reiselustige» in Prosa – mit Aufzeichnungen aus Miss Murrays Tagebuch –, Rätselseiten und «züchtige» Bastellbögen machen das Werk neben dem eigentlichen Inhalt lesenswert. (sam)

Sleeper 4: Das lange Erwachen

Maus, Käse, Katze – und die Hunde sind los

Holden Carver, der Schmerzen und Traumata speichern und diese als tödliche Stösse seinen Gegnern verabreichen kann, wurde dazu auserkoren, undercover die mächtige Organisation des Verbrecherbosses Tao, der ebenfalls auf spezielle Kräfte zurückgreifen kann, von innen heraus auszuhöhlen. Doch je länger je mehr verwischen sich für den Doppelagenten die Grenzen zwischen Gut und Böse. Der Tag der Wahrheit rückt unerbitterlich näher – und die menschliche Schmerzbatterie muss endgültig entscheiden, wes Geistes Kind sie ist.

 

Bis jetzt habe ich mich nicht wirklich für «Sleeper» erwärmen können (siehe Besprechung von Band 2) – dem hochkarätigen Duo Ed Brubaker und Sean Philips («Criminal», «Incognito») zum Trotz. Vor dem Hintergrund, das Werk als abgeschlossene und nicht fortlaufende Serie zu betrachten, drängt sich nun bei der Lektüre des vierten und letzten Bandes «Das lange Erwachen» (Cross Cult, zirka 33 Franken) eine neue Sichtweise auf. Im Grossen und Ganzen hat die Quadrologie (respektive mit dem Prequel «Point Blank» die Quintologie») nämlich durchaus ihre Qualitäten – gerade im Vergleich mit konventionellen Genre-Vertretern. Herausgekommen ist ein spannungsgeladener Doppelagenten-Thriller mit Superhelden-Elementen, der mit einem zynischen Schluss zu trumpfen vermag. Was hingegen das Urteil nach wie vor schmälert, ist das monoton dunkel gehaltene Artwork, das im Vergleich zur US-Ausgabe arg verkleinert reproduzierte Seitenformat sowie die Story, die etwas gar oft hin- und herpendelt zwischen Schein und Sein mit ihrem von Selbstzweifeln geplagten, aber insgesamt charakterlich wenig ausgearbeiteten Protagonisten, der sich dadurch leider nur wenig als Identifikationsfigur anbietet, mit der man als Leser wirklich mitfühlen könnte. (scd)

 

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Codex Angélique – Kompendium der Engel

Von Blasphemie und grünen Feen

Frankreich um die Wende zum 20. Jahrhundert: Der junge Student Thomas aus reichem Haus ertränkt seine Sorgen im Absinth und sucht sein Heil im Opium. Zu Hause erwartet ihn sein vom Irrsinn getriebener Onkel, der seit 20 Jahren verzweifelt versucht, Thomas' tote Mutter mit einer Mischung aus Wissenschaft und Teufelswerk wieder zum Leben zu erwecken. Mit dem «Codex Angélique», einem unheiligen Buch, scheint er diesem Ziel nun endlich näher zu kommen. Doch damit fängt Thomas' Martyrum erst an... Gleichzeitig treibt ein bestialischer, seine Opfer ausweidender Serienmörder in den dunklen Gassen von Paris sein Unwesen.

 

Die Ankündigung auf dem Umschlag, Thierry Gloris und Mikael Bourgouin gelinge es, «Steampunk, Lovcraft und ‹Der Exorzist›» miteinander zu verbinden, mag zwar etwas gar dick aufgetragen sein. Doch es lässt sich tatsächlich konstatieren, dass dem französischen Duo mit «Codex Angélique» (Ehapa, zirka 66 Franken) ein – wenn auch einige Fragen offen lassender – spannender fantastischer Thriller gelungen ist. Einen grossen Anteil daran trägt die in weiten Teilen grossartige Grafik sowie der mutige Bruch nach dem ersten Teilband (es handelt sich um eine in der Reihe «All in One» in einem Band zusammengefasste Trilogie), wo sich das zunächst naiv-verwöhnte Studentchen Thomas plötzlich kahlrasiert in einer Irrenanstalt wiederfindet. – Wie bereits früher angemerkt, käme den «All in One»-Bänden ein kurzer Kommentarteil respektive eine Einführung sehr zu Gute, um etwas mehr über die meistens eher unbekannten Autoren und über die Entstehung und den Hintergrund der Werke mit oftmals historischem Setting zu erfahren. (scd)

 

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Gesamtausgabe Spider-Man 2

Rasender Stillstand, die Zweite

Mit dem zweiten Band (Februar 1979 bis Januar 1981, zirka 50 Franken) schliesst Panini endlich die Gesamtausgabe der noch immer erscheinenden «Spider-Man»-Zeitungsstrips Storys des Dreamteams Stan Lee und John Romita Sr. ab (Band 1 ist vor über zwei Jahren erschienen.). Ähnlich wie beim scheinbar leider auf Eis gelegten «Marvel History»-Projekt dürften die in schwarzweiss realisierten, von Natur aus cliffhanger-reichen Querformat um den quotenträchtigen Netzschwinger vor allem Nostalgiker und Sammler ansprechen.

 

Der Übersetzer Michael Strittmatter geht im lesenswerten Vorwort dieser schönen Hardcover-Edition auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen «Strips» und «Storys» ein: In den täglich publizierten Strips ist zwar keine wirkliche Entwicklung der Charaktere möglich, dafür stellen diese ein ideales Einfallstor für ein Erstlese-Publikum dar, und der Autor ist in der Lage, höchst flexibel auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, wodurch sein Produkt an Realitätsnähe gewinnt. (scd)

RG 1: Riad an der Seine

Die dunklen Seiten von Paris

«RG» steht für «Renseignements Généraux», den Nachrichtendienst der französischen Polizei. Der Autor dieses ersten «RG»-Teils «Riad an der Seine» (Carlsen, zirka 24 Franken) ist in Wirklichkeit RG-Beamter, schreibt hier seine Geschichten aus dem Alltag der Pariser Geheimpolizei, natürlich unter einem Decknamen («Pierre Dragon»). Ein «Bulle» mit dem Körperbau von King Kong, wie es im Vorwort heisst, unterstützt von einem der besten Schweizer Zeichner, Frédéric Peeters. Der 40-jährige Genfer bereiste und erlebte die Welt als ehemaliger Gepäckverarbeiter der Swissair.

 

Die packende und realistisch erzählte Story führt den Polizisten «Dragon» über 116 Seiten durch die dunklen Seiten der französischen Hauptstadt und lässt ihn direkt in ein terroristisches Netzwerk eintauchen. Schon bald muss er seinen Beobachtungsposten am Fenster eines Pariser Altbaus verlassen und den nervenaufreibenden Strassenkampf auf sich nehmen. Der Autor dieses spannenden Bandes sagt: «Die Story ist fiktional, aber so nah an dem, was ich in meinem Job erlebe, dass man sich schnell und leicht täuschen kann.» Auch dieses Paris hat seine Faszination. (Tu-Ri)

Canoe Bay

Auf des toten Manns Kiste…

Die neue Welt im ausgehenden 18. Jahrhundert: Nachdem die Engländer eine empfindliche Niederlage haben hinnehmen müssen, entflammt der Konflikt zwischen den französischen Kolonisten und der indigenen Bevölkerung umso mehr. In diesen wirren Zeiten befindet sich der kleine Jack, Vollwaise und unter dem mysteriösen Einauge Lucky Roberts unfreiwillig zum Piraten geworden, mit dessen Mannschaft auf der Suche nach einem immensen Schatz.

 

«Canoe Bay» (Splitter, zirka 40 Franken) von Patrick Pragne und Tiburce Oger stellt mit seinem Ich-Erzähler im Kindesalter und der zeitlichen Ansiedlung eine gelungene Mischung aus Cooper’schen Stoffen («Lederstrumpf») und Stevensons «Die Schatzinsel» dar. Dem französischen Duo gelingt eine atmosphärisch dichte Erzählung, die grossanteilig durch die prächtige Aquarellgrafik (unterstützt von der splitter-typischen edlen Aufmachung) zustande kommt. Inhaltlich gesehen, handelt es sich jedoch leider – säuberlich recherchiertes historisches Szenario hin oder her – um eine Abenteuergeschichte (für den erwachsenen Leser) nach herkömmlichem Strickmuster. (scd)

 

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Thorgal 30: Ich, Jolan

Der junge Thorgal übernimmt

Thorgal verdankt sein Leben Manthor, dem Herr der Zwischenwelt. Doch die verhüllte Gestalt fordert nun ihren Tribut dafür ein: Thorgals halbwüchsiger Sohn Jolan soll sich in einer Art Initiationsritus gegen vier andere Altersgenossen durchsetzen und den gefährlichen Weg zu Manthors Burg als Erster schaffen. Die um ihren Sohn besorgte Aarica erfährt derweil von einer Hellseherin mehr über das Geschlecht der Manthors, als ihr eigentlich lieb ist.

 

Mit dem 30. Band «Ich, Jolan» (Carlsen, zirka 22 Franken) übernimmt Yves Sente 30 Jahre nach der Entstehung von «Thorgal» das Zepter vom Ur-Szenaristen Jean van Hamme («XIII») – der Wechsel scheint durchaus gelungen. Grzegorz Rosinski bleibt der Wikinger-Saga mit fantastischen Elementen zum Glück erhalten – sein realistischer Stil, den er über die Jahre merklich verfeinert und verbessert hat, stellt nach wie vor einen sicheren Wert dar. Der 31. Band «Der Schild des Thor», in dem «Ich, Jolan» seine  Fortsetzung findet, ist auf Ende April angekündigt. Zum Schluss bleibt das Desiderat, dass Carlsen möglichst bald die früheren Bände der Serie wieder neu auflegen möge – vielleicht durchaus auch als Sämmelbände wie etwa im Falle von «Yoko Tsuno»?  (scd)

 

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100% Marvel 43: Venom Dark Origin

Du sollst nicht lügen

Eddie Brock hatte schon früh die Gabe, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Weil ihn die Welt zum ersten Mal bei seiner Geburt im Stich liess, entschied er sich auch früh für Letzteres. Als seine Lügen ans Licht kommen, findet er die Schuld nicht bei sich, sondern bei Spider-Man. Dies macht ihn zum idealen Wirt für einen ausserirdischen Symbionten, der sich ebenfalls am Netzkrabbler rächen will. Zusammen werden sie zu Venom, einem der gefährlichsten Feinde der Spinne.

 

Die detaillierte Figurentwicklung von Eddie Brocks in «Venom: Dark Origin» (Panini, zirka 20 Franken) mag auf Kosten der Action gehen, die erst mit der Einführung von Venom gegen Mitte des fünfteiligen Sammelbandes in Gang kommt. Dafür wirkt die Story von Zeb Wells («Spider-Man/Doktor Octopus: Das erste Jahr») in sich stimmig. Angel Medinas («Spawn») Illustration punktet vor allem mit dem dunklen Symbionten, dem mehrere ein- und zweiseitige Portraits gewidmet sind. Medinas karikaturhafte Darstellung der Menschen ist jedoch gewöhnungsbedürftig und unterläuft Venoms bedrohliche Aura. Dadurch wird der deutschen Erstveröffentlichung das Horror-Element genommen, das ihr keineswegs geschadet hätte. (sam)

Sukkubus 1: Camilla

Sirenen-Kult strebt die Weltherrschaft an

Paris 1793: Die Französische Revolution erreicht unter dem Terroregime von Maximilien de Robespierre ihren blutigen Höhepunkt. Doch die Gegner des skrupellosen Politikers haben seine Achillesferse entdeckt: Die Liaison mit der mysteriösen Camilla. Die schwarzhaarige Femme fatale gehört dem machthungrigen Frauenorden «Töchter von Lilith» an, dessen Wurzeln bis ins alte Ägypten zurückreichen.

 

Dan-Brown-Fahrwasser zum Trotz: Verschwörungen in einem historischen Setting, angereichert mit fantastischen Elementen – das sollte in der Mischung durchaus einen spannenden Stoff bieten. Doch leider scheitert dieses Unterfangen in «Sukkubus 1: Camilla» (Splitter, zirka 25 Franken) von Thomas Modi und Laurence Paturaud an dem sich komplett dem Verständnis entziehenden Plot. (Oder ist alles wirklich so banal?) Mag sein, dass die im Comic nicht detailliert ausgeführten Ereignisse rund um die Französische Revolution einer frankofonen Leserschaft vertrauter sein mögen; mag sein, dass die Serie erst mit den drei Folgebänden ihr Potenzial offenbart. Doch als verheissungsvoller Start, der Lust auf mehr macht, taugt «Camilla» leider definitiv nicht – das an sich gelungene, plastische Buntstift-Artwork mit seinen regelmässig wiederkehrenden Barbusenszenen hin oder her. (scd)

 

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Details zum interessanten kulturellen Motiv des «Sukkubus» »

Thessaly: Die Hexe lässt das Morden nicht

Hexenalltag in der Grossstadt

Thess, die letzte und gefährlichste der dreizehn Hexen aus dem griechischen Thessalien wird vom Geist Fetch aufgesucht, um ihre Seele zu holen. Sie lässt sich das natürlich nicht gefallen und startet einen Rachefeldzug gegen seine Auftraggeber. Wie in einem Videospiel begegnet die als Studentin getarnte Zauberin immer stärker werdenden Wächtern, bis sie am Schluss auf die Hauptgegner trifft. Wer sich mit der mächtigsten Hexe der griechischen Mythologie anlegt, darf sich jedoch nicht wundern, wenn er anstatt mit einem blauen Auge mit einem gespaltenen Schädel oder abgetrennten Gliedmassen davon kommt.

 

Genau so, wie sich Bill Willinghams Story aufs Wesentliche beschränkt, kommt McManus («Swamp thing», «The Sandman: A Game of You») karikaturhaftes Artwork in Thessaly: Die Hexe lässt das Morden nicht» (Panini, zirka 26 Franken) ohne Schnörkeleien aus. Auf den ersten Blick ansprechend und unterhaltsam fehlt der Geschichte aber der Tiefgang, den man einer von «Sandman» präsentierten Geschichte erwarten könnte. Im Februar erscheint auf Deutsch der abschliessende Band  «Thessaly: Alles wie verhext» der zweiteiligen Miniserie. (sam)

 

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Max 29: Legion of Monsters

Schauermär mit zu wenig Biss

Neben der bekannteren Marvelkreation Man-Thing wird die Armee der Finsternis von sieben weiteren Figuren mit je einer eigenen Geschichte unterstützt. Darunter Frankenstein, Lilith, die Tochter von Dracula oder der Untote Morbius.

 

Ob Archetyp des Horrorgenres oder Neuschöpfung, die meisten der acht Geschichten in «Legion of Monsters» (Panini, zirka 25 Franken) haben trotz des abwechslungsreichen Artworks nur durchschnittlich viel Biss. Aus dem Rahmen fallen eine ulkige «Leichenhausromanze» (Ted McKeever/Chris Chuckry) mit dem sympathischen Zombie Simon Garth, der einfach nicht tot zu kriegen ist, der Gewissenskampf des Vampires Morbius (Brendan Cahill/Miachel Gaydos) und die Bildercollage von Jonathan Hickman, die sowohl historische Fakten als auch lyrische Formen als Erzählmittel vereint. Wer den neuen Monsterumsetzungen nicht viel abgewinnen kann, der soll gleich zur letzten Geschichte vorblättern. Sie ist ein Nachdruck von «Marvel Premiere 28» aus den Siebzigern, in welcher sich Ghost Rider, Man-Thing, Morbius und Jack Russel, der Werwolf, ans Lebendige respektive Untote gehen. Ansonsten bietet «Legion of Monsters» wohl nur echten Gruselfans langfristigen Genuss. (sam)

Die fünfte Variable

Polit-Propaganda mit bunten Bildern

Die Vorsorgestiftung Vesperis wirbt mit ihrem zu 100 Prozent garantierten Deckungsgrad. Verwalter Viktor Wölfli, der diesbezüglich Bedenken äussert, wirds in der Stiftungsratssitzung mundtot gemacht. Da kommt dieser einer Serie mysteriöser Todesfälle auf die Spur. Die Verschiedenen sind allesamt der Stiftung hohe Rückfallgewinne bescherende Vesperis-Versicherte...

 

Der im Gesetz 1985 auf inzwischen nicht mehr zeitgemässe sieben Prozent festgelegte Umwandlungssatz muss gesenkt werden, um das angeschlagene Schweizer Vorsorgesystem aus der Misere zu retten: Dieser These politisches Gewicht zu verleihen, stellt die Mission der Avenir Suisse dar – nun auch in Form eines Comics, der sich laut Pressemitteilung «gezielt an ein jüngeres Publikum richtet». Die Forderung der Denkfabrik von Schweizer Grossunternehmern scheint tatsächlich berechtigt, doch daraus einen als Krimi aufgemachten Lehrcomic zu generieren – und Christophe Badoux («Klee») hat seine Aufgabe mit «Die fünfte Variable» (Edition Moderne, zirka 30 Franken, in Zusammenarbeit mit Prof. Martin C. Janssen) innerhalb des gesetzten Rahmens smartiesbunter Cartoon-Grafik zum Trotz auch wirklich gar nicht schlecht gemacht – und allen Ernstes zu glauben, dieser würde auch ausserhalb verordneter Lektüre im Schulbetrieb konsumiert, ist einfach nur hanebüchern. Demenstprechend wäre die Publikation bei einem Lehrmittelverlag um einiges irritationsfreier gewesen. (scd)

 

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