Slow

Wie Dorgathen die Welt sieht

Seinen eigentümlichen Bilderkosmos kennt man durch seine illustrativen Arbeiten schon lange, doch als Geschichtenerzähler tritt er erst jetzt in Erscheinung: Die Rede ist von Hendrik Dorgarhen, der jetzt mit «Slow» sein Comicbuch-Debüt gibt (Edition Moderne, zirka 48 Franken). Der Band enthält neben einem Gastbeitrag von Max («Bardin der Superrealist») mehrere Kurzgeschichten. Ob es nun um Attentäter, Pubertierende, Stadtgeschichte oder Möchtegern-Cowboys geht:

 

Es ist immer wieder erstaunlich, wie es Dorgathen gelingt, zum einen formal und auch erzähltechnisch hochgradig avantgardistisch zu sein – und zum anderen trotzdem mehrheitsfähige Comics zu fabrizieren, deren Lektüre nicht anstrengt (wie andere progressive Kleinkunstunternehmungen dies nur zu oft tun). Man merkt dem Resultat die ungebremste Spielfreude des Autors beim Schaffen von «Slow» an. So sind es denn auch weniger die konkreten Plots, die in Erinnerung bleiben, sondern vielmehr die deliriöse Grundstimmung, dieser ganz eigenwillige und letztlich nicht vollständig aufschlüsselbare Kommentar zu unserer Gesellschaft. Dies macht den Band für Entdeckungswillige besonders wertvoll. (scd)

 

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Mein Junge

Subversiver Nemo im Lande Liliput

Rund 30 Zentimeter gross ist er, wobei mehr als die Hälfte davon auf seinen Kopf entfällt. Zu wachsen scheint er nicht. Sprechen kann er kaum, aber laut niesen wie ein Weltmeister: Das ist «Mein Junge», der Protagonist eines subversiven Büchleins aus dem Hause Reprodukt (zirka 24 Franken). Der Doktor schaut hinein, der Doktor greift hinein, der Doktor schüttelt den Kopf, der Doktor greift noch tiefer hinein. Als das nicht fruchtet, nimmt er kurzerhand den Besen und drischt auf den Bauch ein, um die Geburt einzuleiten – mit letalen Folgen für die Gebärende. Bei der Beerdigung wird schliesslich eher zufällig ein kleines Bündel im Sarg entdeckt…

 

Diese absurde Szenenfolge, mit der das Woher des (namenlos bleibenden) Sohnes geklärt wird, läutet eine Reihe von nicht minder grotesken Episoden mit seinem Vater ein («Mein Gott, ist der Junge hässlich.»): Vorstellungsrunde im kruden Kollegenkreis, Ausflug in den Tiergarten (Ausbruch der massstabgrossen Pygmäen inklusive), Alptraum des Vaters, dass der Sohn altert – auch dies natürlich total überzeichnet in Szene gesetzt. Olivier Schrauwens formal stark an «Little Nemo» von Winsor McCay gemahnende Werk «Mein Junge ist ein hintergründiges Kleinod. Durch die gnadenlose Karikierung gelingt es ihm bravourös, die Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts entlarvend auf den Punkt zu bringen. (scd)

 

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Muchacho

Sozialkritische Nicaragua-Odyssee

Nicaragua 1976, drei Jahre vor der Revolution. Der junge Priesterschüler Gabriel de la Serna wird ins Dorf San Juan geschickt, um in der Kirche ein Wandbild zu malen. Als Sohn einer einflussreichen Familie behütet aufgewachsen, erlebt er nun erstmals, wie die Armee die Landbevölkerung unterdrückt. Das Dorf stellt sich als Rebellenunterschlupf heraus und wird von der Armee dem Erdboden gleich gemacht. Gabriel flieht in den Dschungel, wo er von einer Gruppe Guerilla-Kämpfern aufgenommen wird. In Gabriel beginnt der Konflikt zwischen der Sympathie für die Rebellen, seiner bürgerlichen Herkunft und der Rolle als Geistlicher zu toben.

 

Grafisch überzeugt «Muchacho» auf ganzer Linie (Carlsen, zirka 45 Franken). Unter den aufwändig gestalteten Zeichnungen von Emmanuel Lepage sind einige Blickfänger, die den Lesefluss zwangsläufig unterbrechen. Die Bilder kommen oft seitenlang ohne Text aus und erwecken durch die detailreiche Darstellung eine intensive Atmosphäre. Dazu trägt die gelungene, in den Grundtönen der Schauplätze gehaltene  Farbgebung (grün im Dschungel, braun im Dorf) bei. Erwähnenswert ist auch der mitreissende Plot, der mit dem Nicaragua der 1970er-Jahre ein eher selten aufgegriffenes Thema behandelt. Darin liegt dann aber auch die Schwierigkeit, da einige Kenntnisse zu den geschichtlichen Ereignissen vorausgesetzt werden. (ras)

Fernanda’s Fabulous Life

Gute Mädchen kommen auf die Bühne

Ein junges Mädel hat Zoff mit seinen Eltern, erhält ein Kunststipendium, das sich als totale Pleite herausstellt (Atelier in irgendeinem stockkonservativen Kaff am Ende der Welt), lernt bei einem versuchten Besäufnis eine Gleichgesinnte kennen, mit der sie kurzerhand eine Band gründet – und trifft schliesslich ihren Prince Charming, einen noch immer wegen seinen früheren Ballett-Ambitionen verstossenen Schreiberling, der ihr auch gleich den ersten Gig verschafft. Schliesslich endet alles mit Happy-End-Sonnenuntergang – davor ein Holzboot mit dem kopulierenden Liebespärchen. So ungefähr die knappe Inhaltsangabe des Büchleins «Fernanda’s Fabulous Life» von Jule K. (Edition 52, zirka 22 Franken).

 

So klischiert der Plot auf den ersten Blick auch wirken mag, so lollipopbunt und auf dilettantisch gemacht das Artwork auch anmutet – eins muss man dem Comic lassen: Ihm wohnt mit seinen ganzseitigen, liebevoll gemachten Popart-Ganzseitern und den ironiegetränkten Kommentaren der Protagonistin aus dem Off ein eigenwilliger «Prall das Leben»-Charme inne, der aus anfänglicher Skepsis Wohlwollen macht. Schön auch der Bruch, in dem ein Alter Ego der Autorin Jule K. im Comic in Erscheinung tritt und die Leserschaft aufklärt: «Leider gehts in der Realität nicht zu wie im Comic. In Wirklichkeit spielte es sich folgendermassen ab…» Wer da nicht mit vollbusigen und so herrlich unschuldigen Protagonistin mitleidet, die sich danach noch einige Seiten länger auf die (sprichwörtliche) Vereinigung mit ihrem Lover gedulden muss… (scd)

Houdini – König der Handschellen

Copperfield hat alles von ihm gelernt

Clever ist er. Cleverer als alle anderen. Und die besseren Tricks auf Lager hat er sowieso. Die Rede ist von «Houdini – König der Handschellen» (Carlsen, zirka 22 Franken), dem die amerikanischen Künstler Jason Lutes und Nick Bertozzi mit einer knapp 100-seitigen Comicbiografie ein würdiges Denkmal setzen. Dazu reicht die Erzählung einiger Stunden eines Tages im Leben des wegweisenden Magiers: Man schreibt den 1. Mai 1908, den Tag, an dem Ehrich Weisz (so der bürgerliche Name Houdinis) in Cambridge einen seiner berühmt gewordenen Brückensprünge mit Hand- und Fussschellen vor riesigem Publikumsauflauf vorführt – um unter «Ah»- und «Oh»-Rufen bald darauf wohlbehalten wieder aufzutauchen.

 

Die ausschliesslich mit Blautönen als Farbe auskommende Grafik ist schlicht und stilisiert gehalten, was den dokumentarischen Charakter und die atmosphärische Dichte unterstützt. Der Anhang, in dem die Rolle der Ehefrau Houdinis, die bahnbrechenden Werbestrategien sowie die Probleme, die seine jüdische Abstammung mit sich brachte, erläutert wird, liest sich sehr flüssig und gibt Aufschluss über den Geist des frühen 20. Jahrhunderts. Vorwerfen könnte man den Autoren höchstens, dass sie Houdinis Verbissenheit, seinen wohl beinahe als krankhaft zu bezeichnenden Ehrgeiz, der den in Budapest Geborenen – so die Legende will – schliesslich auch bei der Vorbereitung auf einen Fakirtrick den Tod brachte, zu wenig herausgeschält haben. (scd)

Paul's Ferienjob

Die Jugend kehrt nochmals zurück

Montreal, Sommer 1979: Der 18-jährige Paul bricht die Schule ab. Da kommt ihm das Angebot, als Betreuer in einem Ferienlager für unterprivilegierte Kinder zu arbeiten, gerade recht. Paul sagt zu – und was folgt, ist der unvergessliche Sommer eines jungen Lebens, inklusive erster Liebe. Der kanadische Zeichner Michel Rabagliati hat  mit «Pauls Ferienjob» (Edition 52, zirka 31 Franken) ein offensichtlich autobiografisch angehauchtes Werk geschaffen. Indem er Populärkulturelles wie etwa Musikstücke in die Handlung einwebt, erreicht er einerseits viele Leser in seinem Alter. Das Besondere am Comic sind aber die spannenden, witzigen und rührenden Anekdoten, die archetypische Lagerszenen zeigen. Damit spricht er andererseits Leser jeglichen Alters an, die einmal ein Ferienlager miterlebt haben und lässt diese in Erinnerungen schwelgen.

 

Die einfachen schwarz-weissen  Zeichnungen, die zu Beginn relativ schlicht wirken, offenbaren sich als perfektes Mittel, um die raffinierte Situationskomik zu transportieren. Mit dem Epilog, der die Geschichte in die Gegenwart holt, entzaubert Rabagliati jedoch schliesslich die magische Atmosphäre. Diese letzten Seiten sind auch der einzige, kleine Wermutstropfen des Buchs. Der Schluss kann bei dem sehr hohen Niveau der Haupthandlung nicht ganz mithalten, was aber ein vernachlässigbarer Makel dieses grossartigen und empfehlenswerten Comics ist. (ras)

 

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Donjon Zenit 2: Der König der Krieger

Aberwitzige Gags in dunklen Verliesen

Die beliebte Geschichte um den ungeschickten Enterich Herbert von Vaucanson und seinen Drachen-Freund Marvin, welche ursprünglich bei Carlsen erschienen ist, wird beim Verlag Reprodukt neu herausgegeben. Das Heft «Der König der Krieger» (zirka 22 Franken)  ist der zweite Band im Zyklus «Zenit», der in der Blütezeit des kommerziellen Verlieses namens Donjon spielt. Doch kurz zur Ausgangslage: Nachdem Herbert aus seinem Reich verbannt wird, findet er Arbeit im Verlies Donjon. Dort soll er Abenteurer davon abhalten, Schätze zu erobern. Da ihm dies nicht gelingen will, schickt ihn der Wärter los, um bei einem Meister die Kampfkunst zu erlernen. 

 

Die Geschichte der beiden Max&Moritz-Preisträger Johann Sfar («Die Katze des Rabbiners») und Lewis Trondheim strotzt nur so von aberwitzigen Gags und schlagfertigen Dialogen. Nichts wird ausgelassen, um die Klischees von Fantasy-Szenarios auf die Schippe zu nehmen. Zum Witz tragen auch die knalligen Farben und die abwechslungsreiche Panelgestaltung bei, welche den dynamischen Charakter des Werks ausmachen. Doch die Geschichte besteht nicht nur aus bitterbösem Humor. Sie hält auch Wendungen bereit, die einem das Lachen im Halse stecken bleiben lassen. «Donjon» empfiehlt sich alles in allem Fans von intelligenter Fantasy, die nicht vor umfangreichen Serien zurückschrecken. (ras)

 

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Gaston 1

Das Chaos hat wieder einen Namen

Gaston, der chaotische Redaktionsgehilfe, ist wieder zurück. Zwar nicht mit neuen Abenteuern, dafür aber mit einer neuen Auflage aller 19 Bände. Im ersten Band des belgischen Kultcomics von André Franquin erfährt man, wie Gaston in die Redaktion des Magazins von Spirou eingeführt wird, als Randfigur anfängt und immer präsenter wird (Carlsen, zirka 19 Franken). Für alle, die ihn nicht kennen, hier die Grundlage: Statt sich um Kurierdienste zu kümmern, verbringt Gaston seine Arbeitszeit lieber mit anderem – wie zum Beispiel Springbrunnen im Boden der Redaktion installieren.

 

Die farbigen, kurzen, meist auf fünf bis sechs Panels beschränkten Geschichten enden üblicherweise mit einem Wutausbruch von Gastons Mitarbeiter Spirou. Trotz seines Alters von über 50 Jahren bietet der Band Gags, die noch immer funktionieren. Die neue Auflage ist eine Gelegenheit für Interessierte, den Klassiker in ihre Sammlung aufzunehmen. (ras)

 

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Wallace & Gromit 1: Fussballfieber

Animationsklassiker auf Papier gebracht

Als Knetfiguren erfreuen sie sich grosser Beliebtheit – und jetzt wollen sie sich als Comic-Charaktere versuchen. Mit «Fussballfieber» (Cross Cult, zirka 24 Franken) von Ian Rimmer und Brian Williamson geben der schusselige Erfinder Wallace und sein Hund Gromit ihr Debüt in gedruckter Form. Wallace wird unverhofft Trainer seines Lieblingsfussballclubs und muss diesen vor dem Abstieg bewahren. Wer die Animationsfilme kennt, weiss, dass er sich dabei auf seine verrückten Erfindungen verlassen wird.

 

Der Comic ist ab sieben Jahren empfohlen und bietet jungen Lesern mit der liebevollen, farbigen Aufmachung ein Lesevergnügen mit Happy End. Älteren Fans der Animation wird auffallen, dass die Transformation zum Comic nicht ganz gelingen will. Vor allem die Dynamik der skurrilen Erfindungen kann zweidimensional nicht richtig wirken. Eingefleischten Fans dürfen sich aber trotzdem auf eine neue Geschichte mit den beiden Sympathieträgern freuen. (ras)

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