Der Geschmack von Chlor

Eintauchen ins Licht

In seiner berückenden Coming-of-Age-Erzählung «Der Geschmack von Chlor» geht Bastien Vivès von einem alltäglichen Sprichwort aus und erschliesst seinen Lesern damit doch eine ganz neue Bilderwelt.

Schwimmbäder sind üblicherweise weder still noch subtilen Gesten geweiht. In «Der Geschmack von Chlor» (Reprodukt, zirka 30 Franken) verwandelt Bastien Vivès das lärmende Nass in eine blautürkisfarbene Bewegungsstudie über die Annäherung an fremde Orte und Menschen. 2009 gewann er für diesen Band den «Prix international de la Ville de Genève pour la bande dessinée» und reihte sich damit in die Riege so bedeutender Vorgänger wie David B., Joann Sfar, Manu Larcenet oder Enki Bilal ein. Nachdem man ihn gelesen hat, kann kein Zweifel daran bestehen, dass man ihn bald immer in einem Atemzug mit diesen Namen nennen wird.

 

Seinem Rücken zuliebe zu regelmässigem Schwimmen gezwungen, taucht ein schüchterner junger Mann jeden Mittwoch in das ungeliebte Element. Bald lernt er dort eine grazile Athletin kennen, die ihn in Geheimnisse ihres Sports einweiht. Wir erfahren nichts anderes aus dem Leben der beiden Schwimmer, als dass er wegen einer Wirbelsäulenverkrümmung zum Krankengymnasten muss und sie bei Wettkämpfen Medaillen gewonnen hat.

 

Die beiden nähern sich an, indem sie ihm das Schwimmen beibringt. Der Junge will den Raum, der im Becken zwischen ihnen liegt, ebenso beherrschen wie sie es tut. Es geht dabei nicht allein um den Sport: Nach der sprichwörtlichen Wendung «Wie ein Fisch im Wasser» wird das Schwimmen zur Chiffre, sich die Welt anzueignen. Der einzige Ort, den wir ausserhalb des Stadtbads sehen, ist die Praxis des Physiotherapeuten. Als der Junge sie verlässt, verwandelt sich seine Umgebung in einen opaken dunkelgrünen Hintergrund.

Die Welt um das Schwimmbecken herum hört an der Ausgangstüre auf. Die beiden verlassen es zwar einmal gemeinsam, verabschieden sich aber bereits auf der Schwelle. Dort wiederholt sie für ihn die Lautzeichen, mit denen sie ihm zuvor unter Wasser etwas sagte. Obwohl er es nicht verstand, übersetzt sie sie allerdings nicht in gesprochene Worte, weil sie sich beide ohnehin in der Sprache verständigen, die man im Wasser spricht.

 

Vage Gefühle äussern sich zwischen ihnen bloss durch die Sprache des Körpers: die Gesten, die Haltung, die Bewegungen. Es sind nur seine Gefühle, die seine Wahrnehmung in den Panels preisgibt, in denen sie ihm zeigt, wie man sich richtig bewegt, oder in denen sich ihr Körper an das Wasser anschmiegt. Sie ruht dort so sehr in sich, dass eine Liebesgeschichte allein daran scheitert, dass er sie als Lehrling beobachtet.

 

Gerade weil die Erzählung so zurückhaltend ist wie der Wassernovize sprechen die Körperzeichen hier so sehr für sich. Bastien Vivès' Band ist ein Ereignis und erschliesst seinen Lesern eine ganz neue Bilderwelt.

 

Waldemar Kesler, im August 2010

 

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