Marvel 1985

Wirklichkeit gewordene Fantasie

Manchmal gelingt es, trotz Aufgreifen von etwas zutiefst Altem etwas Neues, Originäres zu schaffen. «Marvel 1985» ist so ein Fall.

1985: Michail Gorbatschow wird Generalsekretär der KPdSU, der französische Geheimdienst versenkt im Hafen von Auckland das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior, Commodore stellt den Amiga in New York vor, Boris Becker siegt als erster Deutscher und jüngster Tennisspieler aller Zeiten beim Grand Slam-Turnier von Wimbledon. Auf ungefähr 1985 wird auch das Ende des Bronze-Zeitalters der amerikanischen Comic-Kultur und der Beginn des «Modern Age of Comics» (auch andere Bezeichnungen wie etwa «Iron Age», «Dark Age» oder «Diamond Age» – ein Vorschlag von Comicolge Scott McCloud – kursieren) angesetzt.*

 

Mit Veröffentlichungen wie Alan Moores «Watchmen» und Frank Millers «Die Rückkehr des dunklen Ritters» wurde das Superhelden-Genre im Besonderen und das Medium im Allgemeinen dekonstruiert und das Tor zur Realität unwiderruflich aufgebrochen. Was folgte, war eine immense Ausdifferenzierung der Stile, die bis heute anhält – verbunden etwa mit dem Aufstieg der Independent-Comics, der Zunahme der Einflussnahme der Autoren, der durch und durch kommerziellen Ausrichtung der Verlagsriesen, dem Boom des Typus des Antihelden, dem Aufbrechen des starren Gut/böse-Schemas zugunsten psychologisch komplexerer Figuren.

Faszinierendes Was-wäre-wenn-Szenario

1985: In dieser Sattelzeit muss der junge Toby Goodman – ein Comic-Nerd durch und durch, hin und her gerissen zwischen seinen getrennt lebenden Eltern – erfahren, was es heisst, wenn die fiktiven Superschurken aus dem Marvel-Universum plötzlich zu Fleisch und Blut werden und Angst und Schrecken in die reale Welt bringen. Eins vorweg: Mit «Marvel 1985» (Panini, zirka 29 Franken) von Mark Millar und Tommy Lee Edwards ist – vielleicht von Millers Neo-Flattermann-Serie «All Star Batman» einmal abgesehen – die qualitativ hochwertigste Superhelden-Geschichte seit Monaten erschienen. Obschon der Tradition verhaftet und in gewissem Sinn auch eine Hommage, werden gängige Kategorien gesprengt. Im Rahmen des faszinierenden, auch wenn nicht ganz unverbrauchten Was-wäre-wenn-Szenarios gelingt es Millar, dem Superhelden-Strang einen vielschichtigen und sich nicht in Gemeinplätzen verlierenden Drama-Plot um einen verwirrten Teenager aufzupropfen, ohne dass dabei das Gesamt an Homogenität verliert.

 

Des Weiteren stellt «1985», was die auftretenden Charaktere anbelangt, natürlich eine wahre Fundgrube dar: So dürfte manch einem Nostalgiker wärmer ums Herz werden, wenn liebgewonnene Antipoden wie etwa Bullseye, der Geier, Doctor Doom, Electro, Hulk, Juggernaut, Sandman und gar Galactus zu ihrem (zum Teil ganzseitigen und leider oft auch sehr kurzen) Auftritt kommen. Auch die eher an eine Erscheinung aus einem Independent-Label erinnernde Grafik von Edwards ist eine wahre Freude – und der Einfall des Stilwechsels, als Toby in de Superhelden-Welt eintaucht, um Hilfe zu holen, sehr gelungen. Als besonders grosses Verdienst ist es Edwards anzurechnen, dass es ihm gelungen ist, dem ja hinlänglich bekannten Figurenkosmos seinen ganz eigenen grafischen Stempel aufzudrücken, ohne dass die Magie der Anfänge verloren geht. Dem Erzähltalent Millars wiederum ist es zu verdanken, dass die Geschichte schliesslich derart plausibel aufgelöst wird und stimmig, jeglichen Kitsch aussen vor lassend, zu Ende geht.

 

Dave Schläpfer, im Juni 2009

 

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* Es bleibt anzumerken, dass natürlich alle diese Kategorien idealtypisch, trennungsunscharf und hochgradig umstritten sind. Ich plädiere für eine mehrdimensionale Anwendungsweise der Zeitalter-Begriffe: Zum einen als historische Grösse zur Beschreibung der jeweiligen Schaffens- und Distributionsverhältnisse, zum anderen als Ausdruck einer bestimmten Logik. Damit löst sich auch der scheinbare Widerspruch auf, dass es durchaus auch im «Modern Age of Comics» – für dessen Charakterisierung gewiss auch der französischen Tradition entspringende Terminus der Postmoderne taugte – Comics aus dem Bronze-Zeitalter geben kann, die (nicht wertend gemeint) über einen geringeren Grad an Selbstreflexion verfügen.

 

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