Text + Kritik

Zwischen Wundenlecken und Emanzipation

Zumindest jedem Literaturwissenschaftler dürfte «Text + Kritik» ein Begriff sein. Im 30. Jahr seines Bestehens ist beim renommierten Münchner Verlag nun der Sonderband «Comics, Mangas, Graphic Novels» erschienen.

Die Aufsatzsammlung darf als Indiz dafür gesehen werden, dass sich die Comicforschung langsam, aber sicher auch im deutschen Sprachraum innerhalb verschiedener Disziplinen in den Wissenschaften zu etablieren beginnt. Die im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Namen der Autoren muten wie ein Who’s who der deutschsprachigen Comicologen an: Beiträge verfasst haben neben dem umtriebigen Andreas C. Knigge Experten wie Andreas Platthaus und Wolfram Knorr – und mit Urs Hangartner und Christian Gasser sind auch zwei Autoren aus dem Raum Luzern vertreten. Nur einen Aufsatz von Cuno «Comix» Affolter, bekannt geworden durch seine Comic-Kolumne auf DRS3, sucht man vergebens.

 

Aufdröselung der ganzen Comic-Geschichte
Wie vom Verlag zugegebenermassen etwas vollmundig beworben wird, widmet sich der Sonderband «erstmals umfassend» der Frage, wie der Comic mit Bildern erzählt. Dies wird an Einzelanalysen zu den Werken unter anderem von Will Eisner, Hugo Pratt und Jacques Tardi illustriert. Einen sehr guten und auch für Nichtakademiker verständlichen Überblick über die Entwicklung des Mediums von den Anfängen bis heute bietet der Einführungstext von Knigge, dem Mitbegründer des Fachmagazins «Comixene» und ehemaligen Cheflektor des Carlsen Verlags. Weiterhin positiv ins Gewicht fallen die zahlreichen Bildbeispiele, die viel zum Verständnis der Texte beitragen. Leider vermisst man einen Index der erwähnten Künstler und Werke.

 

«Niedrige Gefilde» ausgeklammert

Einziger schwerwiegender Kritikpunkt: «Text + Kritik» legt – wohl quasi aus einer Art Abwehrhaltung heraus – den Fokus ausschliesslich auf von den Kritikern hochgelobte, kanonisierte Comic-Romane und Graphic Novels im Stile etwa von «Maus» und ignoriert «triviale», in Massenauflagen produzierte Comics etwa aus dem Superhelden-Genre konsequent. Damit wird dem Eindruck elaborierter Überheblichkeit und selbstgewählter Abschottung im Orchideenfach-Elfenbeinturm unnötigerweise Vorschub geleistet. Auch bei einzelnen Beiträgen sind immer wieder niederschwellige Rechtfertigungssignale zu erkennen. Dies rührt wohl tatsächlich daher, dass eine akademische Auseinandersetzung mit der etwa im frankophonen Bereich längst etablierten «neunten Kunst» im deutschsprachigen Raum tatsächlich lange verfemt war. Von dieser Warte aus betrachtet, muss «Comics, Mangas, Graphic Novels» als Wundenlecken und Schritt zur Emanzipation zugleich gesehen werden.

 

Dave Schläpfer, im Juni 2009

 

Verschiedene Autoren: «Comics, Mangas, Graphic Novels», herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, Text + Kritik, 272 Seiten, zirka 50 Franken.

 

In den nächsten Wochen/Monaten werden an dieser Stelle Kurzzusammenfassungen der einzelnen Aufsätze aufgeschaltet. Spätere Besuche lohnen sich also!

Andreas C. Knigge

Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics

Andreas C. Knigge schöpft im ersten Beitrag des Sammelbandes, dessen Mitherausgeber er ist, aus seinem vollen Wissensschatz. In seinem Aufsatz zeigt der langjährige Carlsen-Cheflektor gut verständlich und anhand zahlreicher Beispiele die ungeheure Ausdifferenzierung des Mediums Comic in punkto Gattung und Stil auf, die es über die Jahre hinweg seit den Arbeiten des Genfers Rodolphe Töpffer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren hat. Als Einstieg in die Materie geradezu ideal. (scd)

Urs Hangartner

Von Comics und Büchern. Comics und Literatur – Comic-Literatur

Urs Hangartner fokussiert in seinem Aufsatz auf die wechselseitige Beziehung zwischen Comics und Literatur. Der Luzerner Kulturjournalist thematisiert anhand einer Fülle von Beispielen zum einen Literaturadaptionen (etwa Paul Austers «Stadt aus Glas», reinszeniert von Paul Karasnik und David Mazzucchelli), intertextuelle Verweise (bspw. in Alan Moores «Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen»), Autobiografisches (natürlich darunter: Art Spiegelmans «Maus») und wie die Logik des Comics auch Eingang in die Erzählsprache der Literatur (etwa in der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns) gehalten hat. (scd)

Wolfram Knorr

Will Eisner. Oder: Das visuelle Rauschgift des Bilderromans

Im Mittelpunkt des Interesses von Wolfgang Knorrs Aufsatz steht das Leben und Werk des amerikanischen Comickünstler Will Eisner (1917–2001). Der langjährige «Weltwoche» Kulturredaktor und -chef, der inzwischen bei «Star TV» arbeitet und auf die gelungene Sachbuchpublikation «Weil sie wissen, was sie tun» zurückblicken kann, beleuchtet Eisners Werdegang:

 

Von seinem bahnbrechenden Zeitungsstrip «The Spirit», absichtlich als Gegenprogramm zu den aufkommenden Superhelden geschaffen, bis hin zu seinen «graphic novels» genannten und weder in Inhalt, Form und Länge einem gattungsspezifischen Credo verpflichteten späteren Werke wie etwa «Ein Vertrag mit Gott» oder «Das Komplott». Knorrs Ausführungen sind hochspannend, vermögen jedoch den selbstgeschnürten Gordischen Knoten, den Faszination von Eisners Oeuvre zu ergründen, (selbstredend) nur bedingt zu lösen. (scd)

Klaus Schikowski

«Folks, I’m going to speak plain...»

Robert Crumb (*1943) zählt man zu den Ikonen des Underground-Comics der Sechziger- und Siebzigerjahre. Er brachte die künstlerische Freiheit in die Welt des Comics zurück. Neben seiner sozialkritischen Satiren hat er sich vor allem durch seine politisch inkorrekten, gewalttätigen, pornografischen und sexistischen Kurzgeschichten einen Namen gemacht. Comics als unzensierte «Comix» boten ihm nicht nur Raum seinen privaten Fetisch auszuleben, sondern stellten für ihn auch einen Raum der totalen Freiheit dar, in welchem er sein «ungefiltertes Ich» ausleben konnte. Dies gelang Crumb in einer Art und Weise des Erzählens, die für den Comic der damaligen Zeit ein Novum darstellte.

 

Klaus Schikowski beschreibt in seinem Aufsatz mit dem Untertitel «Robert Crumb und die Entwicklung der autobiographischen Comic-Erzählung», wie sich Crumbs Erzählmanier als Meilenstein in der Entwicklung des autobiografischen Comics entwickelt hat. Den Leser anzusprechen und in die Geschichte einzubinden, haben zwar schon Mad und EC-Comics für sich entdeckt, doch Crumbs Art war persönlicher als das bisher Bekannte: «solche kathartische Offenbarung hatte es als Comic zuvor noch nicht gegeben». (sam)

Dietrich Grünewald

Realismo mágico. Zur Erzählweise Alberto Breccias

Die Faszination von Alberto Breccias (1919–1993) Bildergeschichten auf Dietrich Grünewald schwingen in dessen Aufsatz von Beginn weg mit und steigern die Neugier derjenigen Leser, welche sich noch nie mit dem in Urugay aufgewachsenen und dann nach Argentinien übersiedelten Breccia auseinander gesetzt haben. An zwei Beispielen belegt Grünewald die Eigenheiten von Breccias Zeichen- und Erzählstil, der erst in jüngerer Zeit durch die Wiederveröffentlichung seiner «Che»-Biografie ins Bewusstsein eines breiteren deutschen Publikums gerückt ist.

 

Im Comic «Die letzte Nacht im Karneval», der durch seine «atmosphärischen Stimmungsbilder» besticht, wird der Tod von Superman vorweggenommen. Bedenkt man den geschichtlichen Hintergrund der damaligen Militärdiktatur in Argentinien, dann wird die Parodie mit den «vertrauten Motiven der Populärkultur» zu Bachtins «umgestülpter Welt» mit doppeltem Boden. Auch anhand des zweiten Beispiels wird klar, dass Breccias Ansprüche an sein Werk über die schlichte Unterhaltung hinausgehen. In der Allan-Poe-Adaption «The Tell-Tale Heart» setzt er neue Akzente, indem er einzelne Szenen verlangsamt, um somit das psychologische Moment hervorzuheben. (sam)

Dietmar Franz

A Brother to Dragons. Zu Alan Moores «Watchman VII»

Alan Moore (*1953) schuf nach eigenen Angaben «Watchman» nach einer kristallinen Struktur mit unendlich vielen Facetten, die zueinander in Beziehung stehen. Es sind «many levels and little background details and clever little connections and references in it that it's one that academics can pick over for years».

 

Dietmar Franz' Text stellt einen solchen akademischen Versuch dar, die «subtile Hintergründigkeit» in Form einer noch nicht erforschten kristallinen Verbindung zu untersuchen. Nach einem Überblick über Moores Schaffen geht er auf die Story von «Watchman» ein, um im Hauptteil einen genaueren Blick auf Kapitel VII zu wagen. Dabei geht Franz Szene für Szene durch und stellt Bezüge vom biblischen Titelzitat über darstellerische Panelverweise zu McClays' «Little Nemo» bis zu inhaltlichen Referenzen verschiedener Superhelden her. Einen längeren Abschnitt ist der Ankleideszene von Dan (Nite Owl II) gewidmet, dessen Schattenmotiv in die Tradition von Platon über Lucky Luke bis zu Darth Vader eingereiht wird. (sam)

Jonas Engelmann

Die schwarze Welt der Träume. David B.s «Die heilige Krankheit»

Dem autobiografischen Comic «Die heilige Krankheit» (1997–2003) des Franzosen David B.  in allen Facetten widmet sich Jonas Engelmann. Der Mainzer betrachtet das auf Deutsch bei der Edition Moderne erschienene Werk als «revolutionär» sowohl für die französische Comicszene als auch für das Genre der Comic-Autobiografie.

 

Engelmann, der an einer Dissertation über den Autoren-Comic arbeitet, zeigt auf, dass es B. (eigentlich Pierre-François Beauchard, *1959) durch die Gründung des unabhängigen Verlages L'Association gelungen ist, sein mit Problemen behaftetes Aufwachsen mit einem an Epilepsie erkrankten Bruder adäquat im Medium Comic aufzuarbeiten. «Die heilige Krankheit» wird als Versuch verstanden, der Unordnung der Welt mit Unordnung – sowohl auf grafischer wie auch auf inhaltlicher Ebene, heterogen, surrealistisch und verstörend – entgegenzutreten. (scd)

Andreas C. Knigge

Die Chancen der Moderne. Ein Werkstattgespräch mit Dirk Rehm

Dirk Rehm hat nach dem Studium der Visuellen Kommunikation 1991 in Berlin-Schöneberg Reprodukt gegründet. Sein Verlag hat sich auf Comics jenseits des Mainstream spezialisiert und ist inzwischen eine feste Grösse in der deutschsprachigen Comicszene geworden. Im Gespräch mit Andreas C. Knigge gibt der 1963 in Lübeck geborene Rehm Auskunft darüber, wie es zur Gründung von Reprodukt kam und spricht über die Veränderungen des Mediums über die Jahrzehnte im internationalen Vergleich, die Etablierung des Bilderromans, seine zurückliegende Paralleltätigkeit beim und seine Haltung zum Carlsen-Verlag sowie über die zukünftige Ausrichtung von Reprodukt. (scd)

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Kommentare: 2
  • #1

    Andreas C. Knigge (Donnerstag, 30 Juli 2009 15:15)

    Nun ja, in Literaturgeschichten liest man ja auch eher von Thomas Mann oder John Updike als von Jerry Cotton oder Perry Rhodan. Und so gilt eben auch hier der Blick auf die eher literarischen Qualitäten der Gattung, einschließlich etwa Carl Barks: Das seh ich eher als ein Nachholen anstatt ein "Wundenlecken".
    ACK.

  • #2

    Dave Schläpfer (Donnerstag, 30 Juli 2009 23:08)

    Guten Abend Herr Knigge (einmal davon ausgehend, dass Sie wirklich der sind, für den Sie sich ausgeben)

    Der Band ist ja auch wirklich toll und das Unternehmen höchst lobenswert, daran besteht kein Zweifel. Ich hätte nur einen Tick mehr Synthese erwartet zwischen einem klassisch-kritischen (Analyse und meinetwegen auch Würdigung der «Kanon»-Comics) und einem kulturwissenschaftlichen Approach – als Überwindung der reaktionären Sichtweise auf das «Triviale» als jugendgefährdender «Schund», wobei eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit lediglich aufgrund der massenhaften Verbreitung ihre Legitimität gewinnt –, der eben auch das Populäre von einem nicht-wertenden Standpunkt aus miteinschliesst.

    Da erstaunt es mich jetzt erstens schon ein wenig von Ihnen zu hören, dass man scheinbar im deutschen Sprachraum erst jetzt langsam damit beginnt, den Comic als neunte Kunst zu sehen. Und zweitens, dass Sie sich für eine Literaturanschauung stark machen – nämlich die klassisch-wertende Kritik –, für die doch langsam aber sicher die Totenglocke geläutet haben dürfte...