Tim-Forschung

Eine Locke erobert die Welt

«Tim & Struppi» ist die wohl einflussreichste europäische Comicserie. Ein neues Sachbuch zeigt ihre künstlerischen und gesellschaftspolitischen Hintergründe.

Es gibt kaum einen Erdteil, kaum eine kulturelle Region, wohin es den abenteuerlustigen Reporter Tim mit der markanten Stirnlocke und seinen cleveren Hund Struppi nicht irgendwann mal verschlagen hätte: in den afrikanischen Urwald, den Himalaja, nach Ägypten, in den Fernen Osten, nach Nordamerika, in die Tiefen des Meeres, sogar auf den Mond.

 

Panzerfahrzeuge und Nasenaffen

Sehr genau hatte der belgische Autor Hergé (1907–1983) recherchiert, um die Schauplätze möglichst realgetreu in seinen stilisierten Zeichenstil umformen zu können. Michael Farr zeigt in seinem Buch über «Tim & Struppi», dass Hergé über Jahrzehnte ein reichhaltiges Archiv angelegt hat. Anhand von Fotos, Bildern und Plänen – ob es sich nun um Schlossinterieurs, Panzerfahrzeuge, Nasenaffen, Indianerhäuptlinge oder Stadtansichten handelt – wird klar, mit welchem akribischen Eifer Hergé gearbeitet hat. Dessen Künstlername setzt sich übrigens aus den umgedrehten, französisch ausgesprochenen Initialen «R.G.» seines bürgerlichen Namens Georges Prosper Remi zusammen.

 

Rote Gefahr und Tierjagd

Der Buchuntertitel «Tim – Der Traum und die Realität» verweist auch auf die gedankliche Beziehung zwischen Tims Kosmos und der tatsächlichen Welt. Gerade in den frühen Alben zeigt sich, dass Hergés «Tim & Struppi» ganz ein Kind seiner Zeit war und vorherrschende Ansichten und Stereotype wie ein Schwamm aufgesogen hat: So agiert der Blondschopf in seinem Debüt etwa im «stinkenden Müllplatz» Moskau, wo die Bürger mit am Kopf vorgehaltener Waffe «abstimmen» dürfen.

 

Und im von naiven «Ureinwohnern» bevölkerten Kongo wird er nach kolonialistischem Muster zum fröhlichen Tierabschlachter und sprengt sogar ungestraft ein Nashorn in die Luft, nachdem diesem mit Kugeln nicht beizukommen war. Eine Passage übrigens, die in den skandinavischen und deutschen Versionen radikal (zu Gunsten des Dickhäuters) abgeändert wurde. Die späteren Alben schliesslich zeigen ein differenzierteres Weltbild und enthalten weniger explizite Aussagen, die als solche des Autors gedeutet werden könnten.

 

Nazis verboten Tim

Michael Farr lädt mit seinem extrem fundierten und dabei doch äusserst lesbaren Buch dazu ein, durch Parallellektüre «Tim & Struppi» von Grund auf neu zu entdecken. Zum Vorschein kommt dabei einerseits das Talent und der ungebrochene Arbeitswille Hergés, andererseits wird deutlich, dass Kunst nie im luftleeren Raum stattfindet. Hergé erfuhr dies am eigenen Leib: Als Hitler im Mai 1940 Belgien überfiel, mussten die zunächst als Zeitungsbeilage erscheinenden Abenteuer um Tim und Struppi für ein halbes Jahr eingestellt werden.

 

Mit dem Tod von Hergé am 3. März 1983 endete auch die Serie um die beiden Helden. Denn der Zeichner hatte in seinem Testament verfügen lassen, dass «Tintin» und «Milou», wie sie im französischen Original heissen, nicht fortgesetzt werden dürfen. Damit bleibt es bei einem Gesamtwerk von 23 Abenteuern, das eine wunderbare Homogenität ausstrahlt und fortdauern wird. Zusätzlich herausgekommen sind neben Luxuseditionen und der gesonderten Ausgabe des ersten Bandes «Im Lande der Sowjets» von 1929 nur noch die Skizzen des letzten, unvollendeten Abenteuers «Tim und die Alphakunst».

 

Einblick in Arbeitsprozess

Farr gibt auf 200 reich bebilderten Seiten einen tiefen Einblick hinter die Kulissen der Erfolgsserie, Band für Band. Dabei führt er für den Neuling wie auch für Tim-Experten den Arbeitsprozess Hergés zu Tage, der seine Comics nach europäischer Tradition im Alleingang erstellte. Des Weitern reichert er das Buch mit pointierten Kommentaren an, die einen «Tim & Struppi» mit anderen Augen sehen lassen.

 

Dave Schläpfer, im Januar 2007

 

Michael Farr: Auf den Spuren von Tim & Struppi. Carlsen, 205 Seiten, Fr. 60.50.

Hergés Stil: Die «ligne claire»

Die Bezeichnung der klaren Linie führte der holländische Zeichner Joost Swarte für den Stil Hergés und der von ihm beeinflussten Zeichner ein. Merkmale sind die präzisen Konturen der Figuren und Hintergründe und die konsequent einfarbige Farbgebung. So gibt es bei «Tim & Struppi » (mit Ausnahme von «Tim und der Haifischsee») weder Schraffierungen noch Farbverläufe und Schatten. Die Klarheit der Zeichnung widerspiegelt sich auch in der Geradlinigkeit der Erzählung. Hergé kommentierte seinen Zeichenstil so: «Man versucht in der Zeichnung alles Beiwerk wegzulassen, möglichst weit gehend zu stilisieren und die Linie zu finden, die am klarsten ist. Das bezieht sich auch auf die Erzähltechnik.» (scd)

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