Tim-Vermächtnis

Weisse Flächen und Spaghettisosse

"Tim und Struppi"-Erfinder Hergé mag zwar schon lange tot sein, doch seine Figur lebt weiter – und rutscht von einem bizarren Abenteuer ins nächste.

Am 22. Mai hätte der bekannte belgische Comicautor Hergé seinen 100. Geburtstag feiern können. Pünktlich zu diesem Jubiläum wartet sein deutscher Verlag Carlsen Comics mit einer Neuausgabe von "Tim in Tibet" auf (7.30 Franken). Es handelt sich dabei um den chronologisch gesehen 20. Band der von Hergé erdachten und bis zu seinem Tod im Jahr 1983 eigenhändig realisierten Erfolgsserie "Tim und Struppi".

Vertretbare Abzocke
Ziel der Aktion ist es, auch den jüngeren Generationen mit dem in kleinerem Format als die Originalbände gedruckten, gebundenen Büchlein einen preisgünstigen Einstieg in den abenteuerlichen Kosmos rund um den pfiffigen Reporter und seinen Hund zu ermöglichen. Damit verfolgt Carlsen dieselbe Strategie wie etwa Weltbild und Bild mit der im Jahr 2005 gemeinsam herausgegebene, zwölfteilige "Comic-Bibliothek". Diese bietet für ungefähr denselben Preis gleich drei in einem Band versammelte "Tim und Struppi"-Abenteuer: "Die sieben Kristallkugeln", "Der Sonnentempel" und "Der Fall Bienlein". Auch wenn es bei solchen Sammelbänden - von dem gar 20-teilige Kompendium „Klassiker der Comic-Literatur" der FAZ einmal abgesehen - im Grunde selbstredend nur um Profitmaximierung geht, macht diese Stossrichtung auf Grund der hohen Comicpreise durchaus Sinn. Einziger Wehrmutstropfen: Die etwa halb so grossen Seiten lassen letztlich halt doch nicht denselben Lesegenuss wie im Original aufkommen. Denn wer geniesst schon gerne einen der ganz grossen europäischen Autorencomics mit der Lupe?

Essenziell und rar

Wer aber wirklich ernsthaft ins Universum von "Tintin" - so der französische Serientitel - eintauchen möchte, dürfte um den Kauf der insgesamt 25 Bände (je 16.50 Franken) kaum herumkommen. Drei davon gehören nicht zum regulären Bestand: Mit der etwas teureren Nullnummer "Tim im Lande der Sowjets" wird das allererste Abenteuer um den Pfiffikus mit der charakteristischen, keck nach oben gestrichene Stirnlocke aus dem Jahr 1929 wieder zugänglich gemacht. "Tim und der Haifischsee" stellt die aus Filmszenen montierte Adaption des gleichnamigen Trickfilms aus dem Jahr 1972 dar und "Tim und die Alpha-Kunst" schliesslich ist das letzte, unvollendet gebliebene Abenteuer. Da über das Skizzenstadium nicht hinausgelangt, stellt dieser 24. Band tatsächlich nur etwas für den absoluten Fan dar. Spannend daran ist vor allem, dass man so Einblick in den Schaffensprozess des in die Jahre gekommenen Hergés erhält, der in seinem Testament verfügt hatte, dass die Serie nach seinem Ableben nicht weitergeführt werden dürfe.

Auch in finanzieller Hinsicht noch einen Schritt weiter könnte man mit der Anschaffung der inzwischen nur noch antiquarisch erhältlichen 19-bändigen Hardcover-"Hergé Werkausgabe", die nebst einem Kommentarteil und Quellenmaterial unter anderem mit "Stups und Stepke" und "Jo, Jette und Jocko" auch noch die anderen Comicserien Hergés enthält. Ausgerechnet der erste Band mit der frühen Arbeit "Totors Abenteuer" ist leider kaum mehr auftreibbar. Weiterhin Sinn macht es, die heutigen Alben mit den raren, alle mehr als hundert Seiten umfassenden schwarz-weissen Urfassungen zu vergleichen. Wer schliesslich auch noch die Lektüre des unlängst erschienenen Sekundärtitels "Auf den Spuren von Tim und Struppi" von Michael Farr (Carlsen, 59 Franken) hinter sich hat, kann für sich endlich getrost den Titel des "Tintinologen" in Anspruch nehmen. Wer zudem auch einmal den Schöpfer von "Tim und Struppi" selber als Comicfigur erleben möchte, dem sei das biografische Werk "Die Abenteuer von Hergé" ans Herz gelegt.

Hergés Lieblingsgeschichte

Die Wahl von "Tim in Tibet" als Neuauflage anlässlich des 100. Jahrestags Hergés ist einerseits durchaus stimmig, hatte der Comicautor diesen 1960 erstmals in Albumform erschienenen Band doch später selber zu seiner Lieblingsgeschichte erklärt. Zudem „Tim in Tibet" im letzten Jahr vom Dalai Lama mit dem Preis "Licht der Wahrheit" ausgezeichnet, weil die Hergé-Stiftung im Jahr 2001 verhindert hat, dass der Band in China den Namen "Tim im chinesischen Tibet" tragen darf.

Andererseits stellt sich bei allen Stärken dieser Geschichte doch die Frage, ob nicht die Wahl eines heiteren, populäreren Albums sinniger gewesen wäre. Denn "Tim in Tibet" ist mit seiner melancholischen Grundstimmung, den nicht enden wollenden Schneeflächen des Himalaja-Gebirges und den fehlenden Nebenfiguren ein eher atypisches Album der Serie. Die Gründe dafür sind biografischer Natur: Hergé machte Ende der 1950er-Jahre eine schwere Lebenskrise durch. Nach zwei früheren Nervenzusammenbrüchen hatte er nun auch noch mit Eheproblemen zu kämpfen. "Zu dieser Zeit hatte ich ständig in Weiss gehüllte Träume", erinnerte sich Hergé rückblickend. Ein Schweizer Psychoanalytiker riet ihm deswegen gar dazu, die Arbeit an "Tim und Struppi" einzustellen. Dies tat Hergé nicht - vielmehr gelang es ihm, in "Tim in Tibet" seine Alpträume künstlerisch zu verarbeiten. Von seiner Frau trennte er sich kurz darauf und heiratete später eine um einiges jüngere Zeichnerin aus seinem Studio.

Deftige Parodien
Das offizielle Jubiläum vor Augen, lohnt sich auf jeden Fall zuletzt auch noch ein Blick auf die "anderen" Abenteuer von "Tim und Struppi": Denn ähnlich wie bei anderen grossen Comicserien wie etwa "Asterix" ("Gallas"), "Lucky Luke" ("Rocky Luke") oder "Gaston" ("Baston") ist auch hier die Liste der (in der Regel) illegalen Plagiate und Parodien kaum noch überschaubar. Oft mehr schlecht als recht im Stil nachzuahmen versucht oder sogar aus Originalpanels mit anderem Sprechblasentext zusammengesetzt, kreist eine Vielzahl davon in expliziter pornografischer Darstellung um "Das Sexualleben Tims". (So der aus dem Französischen übersetzte Titel des wohl bekanntesten und anrüchigsten Werks dieser Sparte, in dem Tim bereits auf dem Cover als Zoophiler - auf Kosten Struppis - geoutet wird.)

Es handelt sich dabei um eine Weiterführung der in den 1930er-Jahren sehr populären, so genannten "Eight Pagers" oder "Tijuana-Bibeln", die einschlägig bekannte Comicfiguren beim unzensierten und frivolen Liebesspiel zeigen. Ebenfalls diesbezüglich zu eher zweifelhaftem Ruhm gelangte in den letzten Jahren "Tim in Thailand" sowie das in mehrere Sprachen übersetzte und mehrfach aufgelegte Album "Tim in der Schweiz" von 1976, das den Reporter in zum Teil amateurhafter Grafik als dauergeilen, unrasierten und verkifften Abenteurer zeigt. Die schlecht geletterte, wirre Story, bei der es den stets von Drogen vernebelten Reporter um den halben Erdball verschlägt, während Kapitän Haddock derweil in der Schweiz als Versuchskaninchen von Professor Bienlein und seinen wahnsinnigen Forscherkollegen ein tristes Dasein fristet, endet abrupt mit dem Unfalltod Tims infolge eines schlechten Drogentrips.

Zum Kult ist Tims insgesamt weder sonderlich spannende noch sonst in irgendeiner Hinsicht gut umgesetzte Schweiz-Episode wohl auch oder gerade auf Grund der pikanten Sexszene zwischen Kapitän Haddock und Bianca Castafiore, die von der anonymen Autorschaft von der hochdekorierten Opersängerin zur pfauenfederbekleideten Stripperin degradiert worden ist, geworden. Haddock - von was auch immer getrieben - gibt nämlich dem heftigen Liebesspiel der beiden im wahrsten Sinne des Wortes die richtige Würze, indem er einen grossen Kochtopf Spaghetti Napoli über seine mit noch etwas mehr Rundungen als im Original ausgestattete nackte Gespielin entleert. Originell ist dafür die Idee, endlich auch einmal Tims (in gutbürgerlichem Milieu lebende) Eltern auftreten zu lassen: Die sich sorgende Mutter schickt dem in Afrika herumturtelnden und Pleite gegangenen Tim Geld, während der Vater den misslungenen Filius zum Teufel wünscht, seine Frau aber letztlich doch gewähren lässt.

Propaganda mit Tim
Inhaltlich spannender und niveauvoller als die Erotik-Imitationen sind die zahlreichen Versuche von verschiedenen Autoren, den unfertig gebliebenen, offiziellen Band "Tim und die Alpha-Kunst" auf ihre Weise weiterzuführen und zu beenden. Tim ist inzwischen ausserdem wohl schon von jeder nur erdenklichen politischen Seite für ihre Zwecke vereinnnahmt worden: So zündet er etwa im Werk "Tim in Beirut" von 1984 im Auftrag von US-Machthaber Reagan und Bush gar persönlich eine Atombombe. Ein anderes Mal tritt er als vehementer AKW-Gegner auf. Es existieren also inzwischen verschiedenste nebeneinander bestehende und sich inhaltlich und formal gegenseitig ausschliessende "Tim und Struppi"-Versionen.

Hergé ist mehrmals wegen den vor allem im frankofonen Bereich wie wild wuchernden Persiflagen vor Gericht gegangen, da er befürchtete, sie würden dem Image der Originalserie Schaden zufügen - letztlich mit wenig Erfolg. Es mag dem "Vater des europäischen Comic", wie Hergé zuweilen mit Respekt genannt wird, zwar gelungen sein zu verhindern, dass die offizielle "Tim und Struppi"-Serie nicht von anderen Autoren fortgesetzt worden ist, gegen die inoffiziellen Parodien und Imitationen dürfte jedoch auch post mortem - gerade im Zeitalter von Scanner, Photoshop und Internet - kein Kraut gewachsen sein.

 

Dave Schläpfer, im März 2007

 

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