Bourgeon: Reisende im Wind

Vom Schicksal ins ferne Afrika getrieben

Vor gut 25 Jahren ist der Comic-Klassiker «Reisende im Wind» von François Bourgeon erschienen. Das monumentale Werk fasziniert noch immer.

Eine «Rückkehr des lange nicht mehr erhältlichen Klassikers europäischer Comic-Kunst» hätte es werden sollen - und dies laut dem Herausgeber Carlsen Comics in einer «einmaligen Gesamtausgabe im Hardcover». Angekündigt war das alle fünf Einzelbände des längst vergriffenen Comicromans «Reisende im Wind» in sich vereinigende Konvolut auf Ende des letzten Jahres.

 

(Vorerst) keine Neuauflage

Doch daraus wird nun nichts – der Coup ist an Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Autor François Bourgeon und seinem ehemaligen französischen Verlag gescheitert. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass der Band fälschlicherweise nach wie vor in zahlreichen Internet-Buchshops «vorbestellbar» ist. Claudia Jerusalem-Groenewald, Pressesprecherin bei Carlsen Comics, gibt jedoch noch nicht ganz alle Hoffnung auf: «Wir werden sicher weiterhin am Ball werden – das Ergebnis ist allerdings ungewiss.» Dem Comicophilen bleibt zurzeit also nichts anderes übrig, als entweder auf die französische Ausgabe zurückzugreifen oder den Zyklus antiquarisch zu erstehen. So oder so können die Bemühungen des Comicriesen Carlsen, die Schätze aus seiner ehemaligen, wegweisenden Reihe «ComicArt» wieder auszugraben und zu veröffentlichen, als positives Signal gedeutet werden.

Comics ohne Schranken
Wie so häufig bei innovativen Werken stand Bourgeons Vorhaben für seinen knapp 250-seitigen Bildroman verlagstechnisch zunächst auf wackligen Beinen: So war es nämlich Ende der 1970er-Jahre höchst ungewöhnlich, Comics mehr Raum als den Album-Standard von 48 bzw. 64 Seiten zuzugestehen. Bourgeon war nicht der erste, der sich daran störte, nach vorgegebener Seitenzahl einen Schlusspunkt unter seine Geschichten setzen zu müssen; bereits 1976 hatte der italienische Zeichner Hugo Pratt die einflussreiche und ähnlich seitenstarke «Südsee-Ballade» geschaffen. Durch die zeitgleiche Entwicklung in den USA mit Will Eisner an der Spitze («Ein Vertrag mit Gott») setzte sich sukzessive das Verständnis für die Erzählform der Graphic Novel durch, die weder inhaltliche noch formale Grenzen kennt.

 

Schicksals-Odyssee
Weiterhin ungewöhnlich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von «Reisende im Wind» im Jahr 1979 war die offen dargestellte lesbische Beziehung zwischen den beiden Protagonistinnen. Wie auch immer: 1980 wurde «Blinde Passagiere», der erste Band der Serie, als beste französische Comic-Neuerscheinung ausgezeichnet. Der Grundplot ist schnell erzählt: Ausgehend von einem Streich im Kindesalter kommt es zur Verwechslung zwischen der adligen Agnes de Roselande und der Waise Isabeau de Marnaye. Der vormaligen Isa gefällt ihr neues Leben – Agnes schmachtet fünf Jahre in einem Kloster vor sich hin. Nach ihrer Befreiung fliehen die beiden gleich-ungleichen Frauen im Jahr 1780 auf ein Kanonenboot, wo die falsche Agnes bald darauf während eines Gefechts zu Tode kommt. Damit nimmt die fatale gegenseitige Abhängigkeit der beiden ein abruptes Ende. Dies ist jedoch erst der Anfang einer schicksalhaften Odyssee, welche Isa nach Afrika verschlägt, wo sie den brutalen Handel mit «schwarzer Ware» hautnah miterlebt. Der fünfte und letzte Band endet mit einem angesichts der krassen Erfahrungen brisanten Tagebucheintrag Isas: «Freitag, den 29. März 1782… An jenem Tag hätte ich beinahe vergessen, dass ich erst achtzehn Jahre alt bin und schliesslich noch das ganze Leben vor mir habe.»

Kritik am Kolonialismus
Bereits an dieser kurzen Zusammenfassung wird deutlich, dass Bourgeons «Reisende im Wind» weit mehr als eine herkömmliche Abenteuer-Mär darstellt. Es handelt sich vielmehr um ein in seiner Realitätsnähe erschreckendes Stück Zeitgeschichte, um einen kritischen Blick auf die nach wie vor kaum aufgearbeitete koloniale Vergangenheit Europas. Zudem zeigt Bourgeon eindrücklich und unbeschönigt auf, was es im 18. Jahrhundert geheissen haben mag, Frau zu sein. Wie in seinem späteren Werk «Die Gefährten der Dämmerung» ist der Grundton kulturpessimistisch, trotzdem blitzt hie und da ein Stück Menschlichkeit auf. Auch eine Lektüre als Charakterstudie ist äusserst gewinnend; es existieren wenige Comics, in denen die Figuren derart authentisch und jenseits gängiger Kategorien geschildert werden. Als wahrlich exorbitant ist schliesslich die grafische Umsetzung zu bezeichnen: Bourgeon hat für sein historisches Drama sehr viel Recherche betrieben – und trotzdem sind es nicht nur die naturalistisch und äusserst detailgetreu gezeichneten Fregatten und stimmigen Landschaften Afrikas, die faszinieren, sondern immer wieder auch die Physiognomien der Akteure, wobei das ganze Spektrum von äusserster Verzweiflung bis hin zu grösster Freude abgedeckt wird.

 

Dave Schläpfer, im August 2007

Bourgeon – Der Historiograf

François Bourgeon wurde am 5. Juli 1945 in Paris geboren. Nach seiner Ausbildung zum Glasmaler begann er kurze Comicgeschichten zu veröffentlichen, wobei die inhaltliche Bandbreite von Science Fiction über historische Arbeiten bis hin zu Adaptionen von Jules-Vernes-Romanen reichte. 1976 schrieb er die beiden ersten Alben von Robert Génins Mittelalter-Serie «Britta und Colin». Dieser Rückgriff auf vergangene Zeiten sollte bestimmend für Bourgeons weiteres Werk werden: Nach dem im Alleingang produzierten und bald zum Bestseller gewordenen «Reisende im Wind» spannte er mit dem rund 140-seitigen «Die Gefährten der Dämmerung» ab 1983 ein faszinierendes Mittelalter-Panorama auf, in dem Fakten und Mythos kunstvoll zu einem untrennbaren Ganzen verwoben werden. Diese beiden Referenzwerken lösten einen regelrechten Historienboom in der frankophonen Comicwelt aus. François Bourgeons aktuellste Arbeit ist die Utopie «Cyann – Tochter der Sterne», deren vierter Band im August bei Carlsen auf Deutsch erscheint. (scd)

 

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